Overview
2020 und 2021 sind vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausgerufene Wissenschaftsjahre zum Themenfeld Bioökonomie. Ziel von Wissenschaftsjahren ist es, Bewusstsein und Verständnis für ein brennendes wissenschaftliches Thema zu verstärken und den Dialog zwischen Wissenschaftler*innen und Öffentlichkeit zu vermitteln. Für die Bioökonomie geht es auch darum, neue biologische Prozesse oder biologisch inspirierte Produkte öffentlich zu machen, Ideen und Perspektiven zu diskutieren sowie allgemein für Bio-Themen wie Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft und Biodiversität mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Das ist von großer Bedeutung für unsere Ziele im Klima- und Umweltschutz, und ein solches Wissenschaftsjahr kommt zur rechten Zeit. Aber könnte und müsste es nicht auch längst ein Wirtschaftsjahr oder sogar ein Wirtschaftsjahrzehnt Bioökonomie geben?
Wirtschaftsjahrzehnt Bioökonomie
Tatsächlich sind sehr viele Entdeckungen und Forschungsergebnisse der Bio-Wissenschaften schon lange in der Ökonomie angekommen – so wäscht heute niemand von uns mehr mit Kernseife und bei Koch-Temperaturen, sondern High-Tech-Enzyme sorgen schon bei niedrigen Temperaturen und unter Einsatz von sehr milden Reaktionsbedingungen für Fleckentfernung und Sauberkeit. Und was im Haushalt üblich ist, wird auch in der Großindustrie immer verbreiteter. Mit der Bioökonomie gelingt es vermehrt, die traditionelle Industrie zu „biologisieren“, also biologische Prozesse in traditionelle einfließen zu lassen: In der chemischen Industrie sind bereits 16 % der Rohstoffe bio-basiert und nicht mehr wie traditionell üblich von fossilen Rohstoffen stammend. CO2 – eigentlich eine Art problematisches Abfallprodukt – wird von Mikroorganismen für die Herstellung von Ethanol verwertet, und mikrobiell hergestellte Kunststoffe aus Biomasse ersetzen als Bio-Plastik herkömmliche Produkte aus Erdöl.
In der Textilindustrie kann Baumwolle mit weniger Chemie bearbeitet werden, indem Enzyme aus Mikroorganismen chemische Reaktionen ablösen, die viel Energie und häufig hohe Temperaturen und Drücke benötigen. Auch die Papierindustrie profitiert bereits von der Umstellung auf biotechnologische Prozesse, z. B. wenn bei der Papierherstellung Enzyme eingesetzt werden, um Druckertinte aus Recycling-Papier zu entfernen. So können die Umweltbelastung um 40 %, die CO2 Emissionen um 30 % und der Rohstoffverbrach um 60 % gesenkt werden.
Das Pariser COP25 Abkommen sowie der European Green Deal haben als wesentliche Klimaziele die Abkehr von fossilen Rohstoffen und die Klimaneutralität bis 2050 vorgegeben. Um dies zu erreichen, brauchen wir neue Wege, ohne fossile Rohstoffe zu produzieren und Klimagase zu reduzieren.
Biotechnologie und Bioökonomie liefern hier die Hebel: Sie können zur Dekarbonisierung beitragen, indem weniger fossile Kohlenstoffe in die Nutzung gebracht, also verbraucht werden. Stattdessen wird der Kohlenstoff aus Biomasse genutzt, und biotechnologische Verfahren sorgen dafür, dass der Kohlenstoff beständig im Kreislauf bleibt und immer wieder neu genutzt wird.
Im Idealfall sieht der Zyklus so aus, dass Biomasse (aus Pflanzen, Grüngras- oder Lebensmittelabfällen) zur Herstellung von hochwertigen Materialien und Endprodukten genutzt wird, dass Abfälle mikrobiologisch abgebaut und zur Neu-Synthese wieder bereitgestellt werden. Enzymatische Reaktionen mit wenig oder keinem CO2 Ausstoß bei niedrigen Reaktionstemperaturen und milden Reaktionsbedingungen sind hier der Schlüssel zur Nachhaltigkeit. Weiterhin ist es nötig, weniger klima- und umweltschädliche Gase zu produzieren, hierzu müssen Prozesse ressourceneffizienter ablaufen. Auch hier stellt die industrielle Biotechnologie Lösungen bereit.
Die Herausforderung: Umweltschutz und Wirtschaftswachstum vereinbaren
Damit dies geschehen kann, müssen zahlreiche Industrien und Produktionsprozesse in verhältnismäßig kurzer Zeit umgestellt werden. Dies wird ohne Biologie und biotechnologische Verfahren nicht gelingen. Die Herausforderung der nächsten Jahre besteht darin, Umweltschutz und Wirtschaftswachstum zu vereinbaren. Verschiedene Aspekte der Bioökonomie machen dies möglich: Die Bioökonomie nutzt „Abfälle“, also Rohstoffe, die bisher nach der Produktnutzung verbrannt oder als Müll entsorgt wurden; die industrielle Biotechnologie ermöglicht die Umstellung von Prozessen auf umweltfreundlichere Verfahren; enzymatische Prozessschritte vermeiden die Entstehung von CO2 in Produktionsprozessen, und freigesetztes CO2 kann als Rohstoff wieder in Materialien gebunden werden. Eine Kreislaufwirtschaft muss entstehen, wollen wir (wieder) mit unseren natürlichen Ressourcen und Rohstoffen auskommen und den „Earth Overshoot Day“ (also den Zeitpunkt, an dem wir soviele Ressourcen verbraucht haben, wie wir in einem Jahr nachhaltig wiederherstellen können) von jetzt August(!) wieder in den Dezember schieben können.
Was hindert uns, diesen Weg zu Nachhaltigkeit und Erd- und Umwelt-Gesundung energischer und schneller zu gehen? Zum einen sind viele Prozesse und Produkte noch in der Vor-Markt-Phase, und Scale-up und Markteintritt benötigen Zugang zu den Finanzmärkten – ein heute gerade in Deutschland sehr schwieriger Schritt in der Unternehmensentwicklung. Zum anderen stehen neue Produkte und Prozesse im harten Konkurrenzkampf mit traditionellen Verfahren. Werden traditionelle Industrien nicht nach den gleichen Kriterien gemessen, sondern weiterhin mit Subventionen gestützt oder ihre (Folge-)Kosten nicht mit ihrem gesamten ökologischen Fußabdruck berechnet, schneiden innovative Verfahren und Produkte, deren Ressourceneffizienz nicht als Kostenvorteil dargestellt werden kann, im Wettbewerb schlechter ab.
Die Politik, die hier eine steuernde Rolle einnehmen sollte, kann über das Instrument der Förderung auch die vorwettbewerbliche Phase des Wachstums von Unternehmen aber auch die Phase des Auf- und Ausbaus biologischer Prozesse in traditionellen Unternehmen ermöglichen und damit den Einstieg traditioneller Produktion in die Bioökonomie erleichtern und beschleunigen. Häufig ist hier die Kopplung von privater und öffentlicher Förderung erfolgreich.
Eine weitere Steuerung ist über die Erleichterung des Marktzugang für neue Produkte und Materialien möglich, so können Normen angepasst, neue Materialvorgaben erstellt oder Beimischungsquoten festgelegt werden.
Und schließlich müssen die Vorteile neuer Verfahren und Produkte und ihr positiver Beitrag für Klimaschutz, Umweltschutz und Nachhaltigkeit sichtbar gemacht werden. Die Visibilität der bioökonomischen Welt muss im Dialog mit der Gesellschaft und damit den Verbraucherinnen und Verbrauchern diskutiert und vermittelt werden. Das BMBF hat dies mit dem Wissenschaftsjahr Bioökonomie begonnen. Beispielregionen, wie sie zurzeit für die Kohlereviere geplant sind, werden auch helfen, bioökonomische Netzwerke zu bauen und alle Akteure – Wirtschaft, Politik und Gesellschaft – in die Umsetzung aktiv einzubinden.
Unser Weg zur Klimaneutralität und der Erfüllung der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) braucht die Expertise der industriellen Biotechnologie und der Bioökonomie.
Quelle:
https://analyticalscience.wiley.com/do/10.1002/was.000600151/full/